Der Mittelpunkt Berlins

Ein Gespräch aus der Publikation zu “Berlin bleibt! #4 – Treffpunkt Mehringplatz”

2021 organisierte das HAU Hebbel am Ufer im Rahmen der “Werkstatt Mehringplatz” einen Runden Tisch, in dem Stella Konstantinou und Volkan Türeli (zuständig für die Bereiche HAU to connect und Houseclub & Schulen) zusammen mit Anwohner:innen und Akteur:innen über die Situation am Mehringplatz sprachen: über die endlose Baustelle, den Sanierungsstau, mangelnde Versorgung und Infrastruktur, die Sorge vor einer Gentrifizierung, die nicht gehörten Belange des Kiezes, über Kriminalität und Stigmatisierung. Dieses Gespräch war der Ausgangspunkt dafür, dass das HAU dieses Jahr erneut Anwohner:innen und Akteur:innen vom Mehringplatz und Künst­ler:innen, die Teil des für Juni geplanten Festivals sind, eingeladen hat, darüber zu sprechen, ob und wie mit künstlerischen Mitteln gemeinsam etwas gegen Vernach­lässigung und für ein sorgendes, einander zuhörendes, nachbarschaftliches Miteinander am Mehring­platz getan werden kann. Das Gespräch fand im April 2022
online statt.

Duygu: Wir möchten heute weniger auf philosophischer Ebene schauen, was Kunst als Sozialmediator bewirken kann, sondern eher realpolitisch und am Mehringplatz bleiben. Wir wollen versuchen, aus den Herausforderungen und Be­dürfnissen der Anwohner:innen und Ak­­teu­r:innen Vorstellungen darüber zu formulieren, wie mit künstlerischen Mitteln nach dem lang ersehnten und bald hoffentlich Wirklichkeit werdenden Ende der Baustelle am Mehringplatz gemeinsam etwas für die Nachbarschaft getan werden kann. Deshalb wäre es wundervoll, wenn ihr euch alle vorstellen könntet, damit die Außenwelt versteht, wer hier aus welcher Perspektive von, mit und über den Mehringplatz spricht und agiert.

Berit: Hallo, ich bin Berit vom Künstler:innenkollektiv Gob Squad. Wir sind ein deutsch-britisches Theaterkollektiv, bestehend aus sieben festen Mitgliedern, und wir arbeiten schon sehr lange mit dem HAU zusammen. Das ist unser Produktionsort in Berlin für unsere Projekte und unsere Theaterarbeit. Wir machen Theater, aber eher in theaterfremden Räumen, im öffentlichen Raum, in Wohnhäusern und Bürogebäuden, auf Bahnhöfen und so weiter. Wir arbeiten sehr viel mit Video und gehen in den direkten Austausch mit Pas­sant:innen. Nun sind wir involviert in dem Festival am Mehringplatz und befinden uns zudem in einer Recherche, in der wir erst mal einfach gucken und zuhören wollen: “Was ist da los? Was geht da alles und was ist dieser Ort ­eigentlich?”

Yıldız: Ich bin Yıldız Akgün vom Mina e. V. Wir sind eine Kontakt- und Beratungsstelle für Familien mit Kindern mit Behinderung, insbesondere für Menschen mit Migrationshintergrund. Wir haben auch eine Theatergruppe, mit der wir aktiv sind. Unsere Hauptarbeit liegt darin, dass wir Menschen mit Behinderung und deren Angehörige empowern und sie zur gleichberechtigten Teilhabe bringen wollen. Wir sitzen dafür direkt am Mehringplatz. Daher ist es mir so wichtig, dass der Mehringplatz aktiviert wird, dass man da auch “schöne” Projekte verwirklicht. Denn über die zehnjährige Baustelle und die leerstehenden Büroräume und alles drum herum ist der Ort ein bisschen eingeschlafen. Daher sind wir jetzt aktiv mit dabei und schauen, wie wir dazu beitragen können.

Alma: Hallo, ich bin Alma von Peira, ehemals ongoing project, die u. a. mit den Sisterqueens zusammenarbeiten, die wie schon 2019 wieder mit einem Konzert Teil des Festivals sind. Seit 2021 kollaborieren wir außerdem mit dem “Arabischen Thementisch” am Mehringplatz. Wir arbeiten schon sehr lange in kollektiven Strukturen. Eigentlich kommen wir eher von der Bühne, von der Blackbox, haben dann aber immer mehr gemerkt, dass das irgendwie nicht so ganz unser Ort ist, zum Teil auch wegen den Institutionen selber. Trotzdem sind wir in ihnen verankert, so auch jetzt beim HAU oder verschiedenen anderen Institutionen, mit denen wir zusammenarbeiten. Nichtsdestotrotz merken wir immer wieder: Wir brauchen eigene Räume. Wir müssen also andere Formen der Arbeit finden. Vom Genre her ist das alles Mögliche. Was immer ausschlaggebend ist, ist eine gute Zusammenarbeit mit den verschiedensten Personengruppen, Orten etc. Damit meine ich solidarisches, gemeinsames Produzieren.

Bernd: Hallo zusammen. Ich wohne seit circa 25 Jahren am Mehringplatz, bin durch Zufall hier gelandet. Ich bin Pensionär, habe viel Zeit und bin deswegen Vertreter in sehr vielen Organisationen vor Ort im Quartier, gerade auch im Sanierungsbeirat. Ich bin Lesepate in einer der Schulen und dort in einem Gremium vertreten. Als ehemaliger Verwaltungsjurist kenne ich auch die andere Seite, die Verwaltung. Deswegen bin ich immer Ansprechpartner für viele Fragen, die hier in diesem Gebiet auftauchen, aber eben auch unmittelbar Betroffener, denn alles, worüber wir hier reden, betrifft mich in meiner Wohnung, in meinem Umfeld. Wenn ich morgens die Zeitung hole, dann sehe ich, was in meinem Treppenhaus und auf dem Platz los ist. Mein persönliches Thema ist diese Diskrepanz oder die Spannung, die darin besteht, dass wir hier ein sozialer Brennpunkt sind. Das brauche ich nicht zu betonen. Das ist so mit all den Problemen, die wir haben. Wir sind der geografische Mittelpunkt Berlins, der ist nicht am Ku’damm, der ist nicht am Alex, der ist hier. Wir sind ein historischer Platz, den schon der olle Napoleon durchschritten hat. Hier herrscht eine große Spannung. Das wäre meine Frage an euch: Kann man diese Spannung in irgendeiner Weise fruchtbar machen?

“Daher ist es mir so wichtig, dass der Mehringplatz aktiviert wird, dass man da auch ‘schöne’ Projekte verwirklicht. Denn über die zehnjährige Baustelle und die leerstehenden Büroräume und alles drum herum ist der Ort ein bisschen eingeschlafen.” – Berit Stumpf

Stefan: Hallo, ich bin Stefan Endewardt. Ich bin nicht vom Mehringplatz, ich bin vom Kottbusser Tor und wohne dort im elften Stock. Wir haben seit 2008 den Kunst- und Projektraum Kotti-Shop und arbeiten neben anderen Programmen, die wir anbieten, ganz viel generations­übergreifend mit der Nachbarschaft in den Blöcken am Kottbusser Tor. Wir haben beispielsweise jeden Mittwoch ein sogenanntes collagebasiertes Kaffeetrinken mit der Nachbarschaft. Zusammen mit den Nachbar:innen haben wir den selbstverwalteten Nachbarschaftsraum erkämpft und momentan befinden wir uns in einer gemeinsamen Wunschproduktion für die Spielplatzplanung. Ansonsten gibt es im Kotti-Shop auch viel experimentelle Musik, Film, Ausstellungen. Was uns dabei immer total wichtig ist, ist, dass alle Nachbar:innen Teil des Ganzen sind und die Türen immer offenstehen.

Duygu: Ich beginne mit einer Unterstellung: Kunst und soziale Arbeit stechen sich im Hinblick auf den Mehringplatz eher aus, die einen machen Kunst, die anderen soziale Arbeit, so zumindest wird es noch immer häufig gesehen und einsortiert: ein HipHop-Projekt mit migrantisierten Jugendlichen gilt schnell als soziale Arbeit, doch nicht als Kunst, es gibt auch unterschiedliche Fördertöpfe und Institutionen dafür. Nun meine Frage: Wie ist eurer Erfahrung nach das Verhältnis zueinander? Was sind potenzielle Gemeinsamkeiten?

Yıldız: Bei uns liegt die Stärke darin, Menschen mit Migrationshintergrund, mit Behinderung oder sozial benachteiligte Menschen zu aktivieren, sie dazu zu motivieren, mitzumachen. Und genau da brauchen wir natürlich für unsere Projekte auch Menschen, die uns dabei unterstützen, unsere Ideen zu verwirklichen. Wir haben zwar eine Theatergruppe, die zum Teil finanziert wird, doch die Finanzierung ist natürlich sehr gering, sodass wir keine größeren Projekte machen können. Wir machen das in kleinem Rahmen, versuchen, viel­leicht zweimal im Jahr Theaterauftritte zu verwirklichen. Wir haben einen kleinen Raum, in dem wir wöchentlich proben. Es wäre toll, wenn wir besser ausgestattete Proberäume bekommen würden, beispielsweise vom HAU, die von der Nachbarschaft genutzt werden könnten. Die Frage von Kunst oder sozialer Arbeit stellt sich für mich nicht, es geht eher um die finanziellen und räumlichen Möglich­keiten.

Stefan: Ich habe immer das Gefühl, dass sich in unserer Arbeit im Kotti-Shop ganz viel Sozialarbeit und künstlerische Arbeit mischt. Es geht ausschließlich Hand in Hand. Es ist immer “unsere” Nachbarschaft. Um diese mit einzubinden, muss man sehr, sehr prä­sent sein und ich glaube, dass eine Verbindung zu ­einer Institution wie dem HAU – das hier, so verstehe ich das jedenfalls, der Kunst zugeordnet wird – etwas Gutes sein kann, dass sich also “Kunst” und “soziale Arbeit” und was das jeweils ist oder sein soll, nicht unbedingt gegenseitig ausschließen müssen. Damit meine ich: Wenn Grup­pen schon organisiert sind, dann ist das etwas Tolles, und diese dann mit einer Institution wie dem HAU zusammenzubringen, ist super!

Duygu: Aber wie sieht Sozialarbeit verbunden mit künst­lerischer Arbeit in den einzelnen Arbeitsformen real aus, wie verbindet man bei­de Formen der Arbeit und welche Erfahrungen gibt es da in der Nachbarschaft am Mehringplatz? Von Yildiz höre ich ganz klar, dass es die sozialarbeiterische Perspektive vom Mina e. V gibt, die mit konkreten Forderungen an das HAU tritt. Meine Unterstellung dahinter ist vielleicht, dass diese beiden Bereiche sich ganz oft ausspielen, dass zum Beispiel externe Menschen an Plätze wie den Mehringplatz geholt werden für eher kurzzeitige Projekte ohne ein nachhaltiges, genuines Interesse, langfristig etwas an diesem Platz bewirken zu wollen.

“Ein HipHop-Projekt mit migrantisierten Jugendlichen gilt schnell als soziale Arbeit, doch nicht als Kunst.” – Duygu Ağal

Bernd: Die Schwierigkeit besteht genau darin, an unsere Bewohner:innen ranzukommen, sie zu erreichen, wenn man etwas mit ihnen gemeinsam machen will. So verstehe ich die Initiative des HAU. Ihr müsst also zu uns kommen, wenn wir die Leute gemeinsamen bewegen wollen. Wir von der Mieter:inneninitiative Mehringplatz-West bereiten ein Hoffest vor, teilweise zwischen unseren Häusern, aber auch in Innen­räumen. Und da wäre natürlich ein Beitrag vom HAU auch sehr erwünscht. Was ich meine, ist: Ich als Lesepate würde gern Ausflüge mit den Schüler:innen machen, die Lehrer:innen jedoch antworten mir lächelnd und sagen, dass es schon schwie­rig genug ist, mal überhaupt 500 Meter mit den Kindern irgendwo hinzugehen. Die sind noch nie von hier weggekommen, und so geht es den Erwachsenen auch. Es geht also erst mal ums Aufsuchen, darum, in Sitzungen zu kommen zum Beispiel. Kunst und Kultur in Ehren, aber unser konkretes Problem ist die Kontaktaufnahme mit den Bewohner:innen. Und deswegen planen wir jetzt erst einmal Festi­vitäten, zum Beispiel am Markt­platz, der am 14. Mai eröffnet. Das wäre aus meiner Sicht ein An­knüp­fungs­punkt, das HAU vorzustellen, damit die Menschen hier wissen, dass es dieses gibt und was es macht.

Nadine: Das ist vielleicht in der Nachbarschaft noch nicht so bekannt, viele kennen das HAU vielleicht nur von Ständen bei Kiez­festen, dabei ist das Netzwerken schon seit langer Zeit ein großes Anliegen des HAU. Sei es über den Houseclub, der sich seit elf Jahren über die Zusammenarbeit mit Schüler:innen mit dem Stadtteil verbindet. Oder sei es darüber, dass meine Kolleg:innen Stella2 und Volkan3 vor drei Jahren angefangen haben, mehr Zeit am Mehringplatz zu verbringen, regelmäßig in den Sitzungen des Quartiersrats zuzuhören, in dem das HAU als “starke Partnerin”4  beteiligt ist, und genau wie Sie sagen, Herr Surkau, Kontakte zu knüpfen, mit Menschen zu sprechen und zu schau­en: Was ist hier eigentlich los? Was sind die dringenden Themen? Wie funktioniert gemeinwohlorientierte Stadtpolitik in so einer Situation, wie sie am Mehringplatz und an vielen Orten in Berlin herrscht? Wie können Kunst und Kultur Teil einer gemeinwohlorientierten Stadtpolitik werden? Existierende Barrieren und Schwellen sowie Produktionsweisen von Projekten, die ihrer Logik und Förderstruktur entsprechend eher kurz- als langfristig angelegt sind, mal kurz beiseitegelassen. Genau­so stimmt es natürlich, dass Kontakte knüpfen, sich treffen, schon allein durch die Pandemie in genau diesen letzten zwei ­Jahren ziemlich erschwert wurde. Selbst wir treffen uns heute auf Zoom, obwohl wir ins Café MadaMe hätten gehen können. Was mich interessiert: Wenn der Kontakt einmal geknüpft wurde, wie weiter? Was können wir gemeinsam füreinander tun mit den Mitteln und Fähigkeiten, die wir haben?

Stefan: Ich glaube, es ist auch die Frage, wo man mit dem Ganzen hinwill, also welche Verbindung ein Ort wie das HAU mit der Nachbarschaft anstrebt. Ich meine, wir sehen das bei uns. Da ist es auch so, dass unsere Leute noch nicht mal aus den Nordblöcken rausgehen. Es ist total wichtig, diese anfängliche Scheu gegenüber solchen Räumen anzuerkennen, um sie dann überwinden zu können. Obwohl ich am Kotti wohne, ist es trotzdem eine ganz starke Vertrauensfrage und es ist schon immer eine bestimmte Art von Türklinkenputzen, wenn man andere Leute erreichen möchte. Zudem fragen wir uns, wie kann Kunst ein Werkzeug sein, um gemeinsam eine Stimme zu finden und auch bestimmte Dinge aus der Nachbarschaft heraus zu formulieren, weil normalerweise nur über uns gesprochen wird statt mit uns.

Berit: Also ich glaube, es geht um Vertrauen und vor allem um Zeit. Beides ist eigentlich etwas, das man in so einem Rahmen von einem kleinen, zeitlich und finanziell fest abgesteckten Kunstprojekt nicht unbedingt leisten kann. Unsere “kritischen Freund:innen”5  vom Mehringplatz haben uns gesagt, dass Spaß ein wesentliches Moment und ein Element ist, um Türen zu öffnen. Das wollen wir nun verwirklichen, immer unter Berücksichtigung der Frage, die Bernd Surkau vorhin erwähnt hat. Nämlich: Wie stellen wir uns den Mehringplatz vor und, ganz wichtig: Wie stellt der Mehringplatz sich uns vor? Ich habe die Leute, mit denen wir gesprochen haben, als sehr, sehr offen erfahren und viele kannten auch das HAU. Sprich, ich habe nicht unbedingt bestätigt gesehen, was Bernd zwischen den Zeilen gesagt hat, dass es da eine totale Hemmschwelle gibt und die Leute nicht über die Straße wollen. Es gibt sehr wohl Berührungspunkte.

Yıldız: Ich würde sagen: einfach mit einem Gespräch herausfinden, welche Gründe es gab, die sie daran gehindert haben, bisher nicht ins HAU zu gehen. Selbst ich habe erst nach ein paar Jahren herausgefunden, dass das ein Theatergebäude ist. Auch soziale und kulturelle Projekte sollten hierher ziehen in einer Form, die von der Nachbarschaft gewollt ist, anstatt dass die vorhandenen Räume als Büroflächen oder Geschäfte vermietet werden, die die Nachbarschaft so eigentlich gar nicht braucht. Wir sollten da alle aktiv werden, den sozialen Raum als Nachbarschaft mitgestalten, und uns dabei dann natürlich auch wohlfühlen. Dann sagt man nämlich: “Mein Kiez, mein Wohnort, ich habe hier mitgewirkt.”

“Um die Nachbarschaft mit einzubinden, muss man sehr, sehr präsent sein und ich glaube, dass eine Verbindung zu einer Institution wie dem HAU (…) etwas Gutes sein kann, dass sich also “Kunst” und “soziale Arbeit” und was das jeweils ist oder sein soll, nicht unbedingt gegenseitig ausschließen müssen.” – Stefan Endewardt

Alma: Ich kann die Wichtigkeit des Zusammenhangs von sozialer Arbeit und künstlerischer Arbeit auch nur unterstreichen. Was ist das eine ohne das andere? Gerade wenn man als Institution überlegt, in Kontakt mit dem Ort, in dem man eingebettet ist, zu kommen, geht es gar nicht anders. Da ist es gar keine Frage, ob das schwierig ist oder nicht. Ich habe das Gefühl, das beinhaltet ein Kennenlernen und auch ein bisschen ein Nachfragen, was ist eigentlich der Ausgangspunkt, was geschieht dort vor Ort? Ebenso wichtig ist mir dann aber, von diesen Problemen wegzukommen. Andersherum zu denken. Was kann ich an euch feiern, was können wir gemeinsam feiern und wie können wir das in einer Form zeigen und zelebrieren?

Stefan: Das denke ich auch. Was wir uns auch in unserer Nachbarschaft immer fragen, ist, was ist unser gemeinsamer Nenner? Und das ist der geteilte Raum, in dem man eine Brücke bauen kann.

Duygu: Was könnten weitere Zwischenräume und Querverbindungen sein für den Punkt der Annäherung? Was kann das HAU vom Mehringplatz lernen?

Alma: Vielleicht, dass die Institution nicht immer alles selbst macht und als Programm anbietet (weil das so die eingeübte Logik von Theater- und Kunstschaffenden ist), sondern die Aufgabe sich dahin verschiebt zu sagen: Was wollt ihr eigentlich sehen, woran wollt ihr euch beteiligen, welche Musik wollt ihr hören?

Duygu: Wie könnte eine Aktivierung des Mehringplatzes aussehen, die im Interesse der Anwohner:innen ist?

Bernd: Aus meiner Sicht ist das Problem, dass der Mehringplatz, sprich der Platz im Rondell im engeren Sinne, positiver besetzt werden muss, sobald die Baustelle weg ist. Man kennt den Platz nicht, man fährt mit der U-Bahn oder auf der Straße vor­bei. Wenn darüber berichtet wird, dann im nega­tiven Zusammenhang. Aber der Mittelpunkt Berlins soll­te in positiver Weise bekannt gemacht werden. Und hierbei sollte die Kunst auch eine Rolle spielen.

Alma: Mir wurde bewusst, dass das schon eine ziemlich einmalige Situation ist in Berlin. In welcher anderen Großstadt gibt es wirklich direkt im Zentrum so einen Schandfleck wie der Mehringplatz es durch die Baustelle, durch Vernachlässigung usw. wurde? In unmittel­barer Nähe gibt es alles, es ist total schick, ­irgendwie so komplett davon isoliert. Als Erstes würde ich somit versuchen, die Grenzen aufzuweichen oder zu verschieben. Und mit Aktivieren meine ich: Was will ich da eigentlich mit hinbringen?

Stefan: Der Kotti ist auch ein “Schandfleck” der Stadt. Es gibt diese Ohnmacht, die man oft bei diesen stadtpolitischen Prozessen empfindet. Umso wichtiger ist es dann zu sagen: In all der Vielschichtigkeit teilen wir uns die Verantwortung hier. Das bedeutet für mich “aktivieren”: So ein stetiges Verweilen miteinander.

“Über die Idee der Verantwortung kann man dieses städtische Gefüge am Mehringplatz mehr als ein Dorf begreifen, nicht im Sinne von Enge, sondern von Sorge füreinander. Natürlich passiert das schon, so mein Eindruck, umschließt aber nicht alle als sorgende Infrastruktur, die das Ganze im Blick hat.” – Nadine Vollmer

Nadine: Ich mag Stefans Auslegung von Aktivierung, was ich sonst häufig mit kapitalistischen Aufwertungsmaßnahmen verbinde. Über die Idee der Verantwortung kann man dieses städtische Gefüge am Mehringplatz mehr als ein Dorf begreifen, nicht im Sinne von Enge, sondern von Sorge füreinander. Natürlich passiert das schon, so mein Eindruck, umschließt aber nicht alle als sorgende Infrastruktur, die das Ganze im Blick hat. Dafür braucht es politische Maßnahmen. Und es beantwortet noch nicht die Frage: Was tun mit künstlerischen Mitteln, wenn ich nicht nur Kunst anbieten will, so wie es Alma eben meinte?

Alma: Zum Beispiel so: Ich arbeite grad in einer Gemeinschaftsunterkunft in Buch. Währenddessen fiel mir wieder auf: Meine Aufgabe ist dort, ab­gesehen von dem Produkt, das ich herstelle, den Mädchen eine Möglichkeit zu schaffen, ihre unglaubliche Energie, die sie haben, rauslassen zu können und sie so auf etwas Positives statt Destruktives zu lenken.

Yıldız: Ich finde den Gedanken von Nadine ganz toll. Sich als Dorfbewohner:in zu fühlen, wo jede:r eine Aufgabe, aber auch das Vertrauen hat. Ich kann mich in meinem Dorf auf andere verlassen und diese Vielfältigkeit als einen Reichtum sehen.

Stefan: Ich glaube, wenn man aktiv als Gemeinschaft die Aufhebung der gemeinsamen Passivität im Miteinander sieht, dann kann daraus etwas entstehen. Wichtig sind ein Grundvertrauen und ein respektvoller Umgang, ohne dass die einen die anderen zu stark dominieren. Es ist dieser entscheidende Unterschied, wenn man die Omas und die Tanten und andere Bekannte der Anwohner:innen kennt. Dann lassen sich viele Probleme genau über so ein gegenseitiges dorfartiges Kennenlernen lösen.

Duygu: Das finde ich ein schönes Schlusswort. Zu sagen, dass das gemeinsame Verweilen eigentlich eine der größten Gemeinsamkeiten ist, die nicht an irgendeine Anforderung oder Leistung dieser Menschen geknüpft ist. Dabei passieren viel mehr Gespräche als in etlichen Plena oder Räten, die auch total wichtig sind, doch diese Hürden, auch zum Beispiel die zwischen Jung und Alt, könnten aufgehoben werden. Ich finde es wahnsinnig schön, Teil eines realpolitischen Szenarios zu sein mit Menschen, die ein genuines Interesse daran haben, einen Ort zu verändern, zu aktivieren, und kein Blatt vor den Mund nehmen und vor allem: bereit sind, nicht einer Meinung zu sein, und trotzdem gemeinsam arbeiten wollen für diesen wundervollen Ort. Das ist so kraftvoll. Die kollektive Aufhebung einer gemeinsamen Passivität.

Es diskutierten:

Yıldız Akgün – Leiterin von Mina e. V.

Stefan Endewardt – Architekt und (zusammen mit Annette Knol) Gründer des Non-Profit-Kunst- und Projektraums Kotti-Shop

Berit Stumpf – Performancekünstlerin und Teil des deutsch-britischen Theaterkollektivs Gob Squad

Bernd Surkau – Anwohner am Mehringplatz seit 25 Jahren, engagiert im und für das Quartier u. a. im Sanierungsbeirat,

der Mieter:inneninitiative Mehringplatz West, als Lesepate und Gremiumsmitglied an der Galilei-Grundschule

Alma Wellner-Bou – Teil des Kollektivs Peira (ehemals ongoing project)

Nadine Vollmer – freie Dramaturgin und Programmkoordinatorin für “Berlin bleibt! #4 – Treffpunkt Mehringplatz”

Moderation: Duygu Ağal – Autor:in und Moderator:in

Foto: Jürgen Fehrmann